populismus in ost und west

Prof. Dr. Stefan Kolev wurde 1981 in Sofia, Bulgarien geboren und ist dort aufgewachsen. Für das Studium der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre kam er nach Hamburg, wo er im Jahr 2011 in Volkswirtschaftslehre promovierte. Zuvor verbrachte er einige Jahre in Erfurt als Mitarbeiter an der Zweigniederlassung Thüringen des Hamburgischen Welt Wirtschafts Instituts (HWWI). Seit 2012 ist er Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik, an der Westsächsischen Hochschule Zwickau, ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Wilhelm-Röpke-Instituts in Erfurt und hat 2015 das Netzwerk für Ordnungsökonomik und Sozialphilosophie NOUS in Freiburg mitgegründet. Prof. Kolev beschäftigt sich in seiner Forschung vor allem mit Geschichte des ökonomischen Denkens, Ordnungs- und Institutionenökonomik sowie Wirtschaftssoziologie. Am Symposium 2019 hat er gemeinsam mit Jon Henley (The Guardian), Stefanie Bolzen (Die Welt) und Philippe Legrain (LSE) über „Populism in Europe“ diskutiert. Prof. Kolev ist seit 2019 Mitglied des Kuratoriums des Humboldt-Forum Wirtschaft e.V.

HUFW: Lieber Herr Kolev, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, die Paneldiskussion „Populism in Europe“ noch einmal zu vertiefen. Fangen wir mit den Grundlagen an. Was ist überhaupt mit „Populismus“ gemeint? Wird der Begriff einheitlich benutzt?

Kolev: Alle ringen mit diesem Begriff und dessen Facetten. Ich finde ihn durchaus interessant, und wenn ich auch nicht sagen kann, dass ich selbst eine perfekte Definition hätte, gibt es ein paar Dinge, die mich im Zusammenhang mit „Populismus“ immer umtreiben. Natürlich kann man die relativ schlichte, aber unterkomplexe Meinung vertreten, dass jeder Politiker potentiell ein Populist ist und vielleicht trifft das auch in vielen Fällen zu. Aber die Frage ist eben, was einen populistischen Politiker ausmacht.
Für mich sind das vor allem drei Eigenschaften. Das eine ist, dass es sich tendenziell um Akteure handelt, die nicht reformerisch unterwegs sind, sondern eher eine grundlegende Wandlung der Gesellschaft hin zu einer anderen Ordnung wünschen. Es geht also nicht um die Reformierung des Bestehenden. Populisten, man denke an Viktor Orbán oder Donald Trump, treten an und sagen: „Das Bestehende ist so hinüber, dass man es nicht mehr mit Reformen retten kann, es braucht etwas genuin Neues“. Dieses Ablehnen des normalen politischen Prozesses ist der erste Aspekt.
Zweitens geht es um eine personifizierte Kommunikation politischer Inhalte. Etwas vereinfacht gesagt, kann man Politik im Namen einer Idee, im Namen einer Partei oder im Namen einer Person machen. Populisten haben zwar häufig eine Leitidee und gehören meist auch einer Partei an, aber primär geht es weder um die Idee noch um die Partei, sondern um die Person selbst. Trump, der die Republikaner komplett in seinen Schatten stellt, ist hierfür ein gutes Beispiel. Aber auch der Front National ist im Prinzip seit Jahrzehnten ein Familiengeschäft der Le Pens.
Man redet nicht einfach abstrakt über Politik, sondern ganz konkret über die eigene Politik. Wir reden hier von Akteuren, die einen Führungsanspruch auf eine ganz besondere Weise anmelden und die Inhalte der Politik ganz stark mit der eigenen Person verknüpfen. Mit der rhetorischen Haltung „Ich bin das Volk“ machen viele Populisten ihren Anspruch deutlich, ein angeblich homogenes Volk zu verkörpern.
Und drittens geht es Populisten ganz stark um Feindbilder, also zum Beispiel „das Establishment“. Man kreiert, ob realistisch oder nicht, einen Feind. Und die gesamte Energie dieses neuen Ordnungsentwurfs und der eigenen Persönlichkeit fokussiert man darauf, dass man diesen Feind bekämpft. Der Feind kann eine Gruppe von Menschen sein, das kann eine Person sein, oder auch eine Institution wie etwa das althergebrachte Parteiensystem, das schlichtweg als homogenes Kartell hingestellt wird. Wie konkret dann dieser neue Ordnungsentwurf ist, ist fraglich.
Aber das Delegitimieren des Feindes sehe ich als dritten und auch zentralen Aspekt des Populismus. Also zusammengefasst hätten wir Revolution statt Reform, starke Personifizierung und starke Freund-Feind-Schemata.

HUFW: Wir reden bis jetzt vor allem über populistische Politiker. Häufig werden ja auch zum Beispiel bestimmte Argumente oder Positionen oder Parteien als „populistisch“ bezeichnet. Auf was für Dinge kann man Ihrer Meinung nach den Begriff „populistisch“ sinnvoller Weise anwenden?

Kolev: Das Adjektiv „populistisch“ wird tatsächlich häufig, ähnlich wie der Ausdruck „neoliberal“, einfach an Protagonisten drangehängt, die man nicht mag. Da muss man sich vielleicht im Gebrauch des Wortes ein bisschen mäßigen. Hilfreich ist es nicht immer. Ich denke, der Begriff „Populismus“ kann durchaus sinnvoll sein, beispielsweise in dem Sinne wie wir es gerade diskutiert haben. Häufig wird es außerdem auch verwendet um auf eine besonders stark verkürzte politische Agenda hinzuweisen, die aus wenigen inhaltlichen Punkten besteht, und die größtenteils offenlässt, wie die politischen Forderungen überhaupt umgesetzt werden sollen. Es wird die Frage ausgelassen, wie bestimmte Ziele erreicht werden sollen und was die Kosten sind.
Insbesondere bei Ökonomen sollten solche verkürzten Darstellungen auf Widerwillen stoßen, weil dabei Kosten-Nutzen-Abwägungen und Ziel-Mittel-Relationen unter den Tisch fallen. Ich glaube, dass neben den drei Punkten, die ich zuvor angesprochen hatte, dies ebenfalls eine legitime Verwendung des Begriffs ist.

HUFW: Oft hat man das Gefühl, Menschen sagen „Populisten“ und meinen eigentlich „rechte Politik“. Sollte man diese Begriffe vielleicht noch schärfer trennen?

Kolev: Das ist im deutschen Diskurs oft zutreffend. Hier meint man mit „populistisch“ fast immer Rechtspopulismus. Ich weiß nicht, wie das beispielsweise in Frankreich ist, wo es den Front National schon sehr lange gibt. In Deutschland und den anderen Ländern, in denen ich mich eher auskenne, ist der Begriff in der Tat seit 2016 mit dem Brexit und Trump groß geworden. Die AfD hat auch ab 2015/16 besonders verquere Wege beschritten.
Populismus hat auch in manchen Fällen etwas mit extremen Positionen zu tun, und weil es unter Umständen schwieriger ist, Leute als links- oder rechtsextrem zu bezeichnen, benutzt man „populistisch“ als Proxy dafür.
In der Tat gibt es auch Ähnlichkeiten zwischen Links- und Rechtspopulismus, wenn man sich konkrete Länder anschaut. In Frankreich haben zum Beispiel im zweiten Wahlgang der letzten Präsidentschaftswahl viele linke Wähler von Jean-Luc Mélenchon nicht Emmanuel Macron, sondern die rechte Kandidatin Marine Le Pen gewählt. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass Teile der Bevölkerung sich vom „Establishment“ oder der bisherigen Demokratie verabschiedet haben, so dass eine Wählerschaft jenseits der Kategorien „links“ oder „rechts“ entstanden ist, gerade wenn es gegen explizite Projekte des „Establishments“ geht. Das hat man auch bei TTIP gesehen. Man marschiert dann Seite an Seite gegen das „globalistische Establishment“, obwohl man sich üblicherweise als rechts und links ziemlich doll bekämpft. Möglicherweise entstehen also neuartige Konfigurationen, die es vorher nicht gab, und der Begriff „Populismus“ ist ein erster Schritt dahin, einen neuen Begriffsapparat zu entwickeln.
In diesem Sinne brauchen wir den Ausdruck „Populismus“ als eine Art rhetorische Krücke, bis wir irgendwann etwas bessere, operationalere Begriffe gefunden haben.

HUFW: Sie hatten jetzt die „globalistischen Eliten“ als ein häufiges Feindbild der Populisten angesprochen. Inwieweit spielen Ihrer Meinung nach unterschiedliche Vorstellungen von kultureller Identität für das Phänomen des Populismus eine Rolle?

Kolev: Oft wird ein Konflikt zwischen den Gruppen heraufbeschworen, die der Brite David Goodhart als die „Somewheres“ und die „Anywheres“ bezeichnet. Wenn man als Populist das Establishment als Feindbild aufbauen will, muss man diesem Feindbild eben auch ein paar Charakteristiken andichten. Und das funktioniert gut mit diesen sogenannten Anywheres, also Leuten wie mir, die angeblich keine wirkliche Heimat haben und irgendwie überall hingehören und dadurch auch nirgendwohin, oder vielleicht auch so eine seltsame Sprache sprechen, wie im Falle Deutschlands eine Art Denglisch. Ich denke aber, dass man den Konflikt dahinter schon ernst nehmen muss. Wenn man zum Beispiel in Zwickau lebt und als Forscher mal ein halbes Jahr durch die USA tourt, dann scheint das mit den Somewheres und den Anywheres durchaus Sinn zu machen. Und ich glaube, dass Menschen wie ich darüber mehr nachdenken müssen – auch wenn ich nicht sagen kann, dass ich über Identität und Herkunft und Kultur nicht nachgedacht hätte, weil ich eben als Bulgare in einem kulturell ziemlich anderen Land lebe. Man sollte auf jeden Fall, auch wenn die Populisten in einigen Ländern wieder an Einfluss verlieren sollten, nicht leichtfertig darüber hinweg gehen, was deren Wähler von ihnen wollen. Das Ganze ist kein Kampf und ich rate auch Leuten wie mir, nicht die Freund-Feind-Kategorien der Populisten zu übernehmen. Wenn es in Zwickauer Gesprächen um Identität und Kultur geht, versuche ich das Gegenüber davon zu überzeugen, dass man auch multiple Identitäten im Sinne Amartya Sens haben kann: Zwar bin ich kein Sachse, komme aber aus einem ehemaligen sozialistischen Bruderstaat und teile dadurch verschiedene identitätsprägende Schlüsselerfahrungen mit diesem Zwickauer Gegenüber. Die Somewheres sind nicht meine Feinde und ich sollte nicht arrogant, überheblich oder mit professoraler Leichtigkeit über sie hinweggehen, sondern es sind eben Bürger, die mit der Globalisierung, jetzt auch in Kombination mit der Digitalisierung, ihre Probleme haben.
Moderne Gesellschaft, in Abgrenzung zur vormodernen Gemeinschaft, ist eben nicht einfach und ist in den letzten Jahren noch komplizierter geworden. Gerade den Effekt der Digitalisierung kann man schwer abschätzen: In einigen Hinsichten erleichtert sie die Koexistenz des Individuums in Gemeinschaften und Gesellschaften, in anderen Hinsichten sorgt sie auch für Spaltung und Auseinanderdriften. Das betrifft uns alle, und vielleicht sind die Somewheres, die häufig die Wähler der Populisten ausmachen mögen, einfach diejenigen, die das Unbehagen mit der global-digitalen Welt am lautesten bekunden. Über dieses Phänomen darf man sich weder als Sozialwissenschaftler noch als politisch denkender Mensch hinwegsetzen, indem man annimmt, die Wähler von Populisten seien einfach nur alt oder ungebildet oder kämen mit dieser Welt nicht klar. Man muss versuchen, diese Mitbürger zu verstehen, und zwar im Sinne Max Webers, man muss mit ihnen auch politisch einen Umgang finden, ihnen ein glaubhaftes Versprechen eines lebenswürdigen Lebens in dieser extrem dynamischen Welt anbieten.

HUFW: Können Sie vielleicht noch etwas näher erläutern, was „verstehen im Sinne Max Webers“ bedeutet?

Kolev: Damit meine ich, dass man sich empathisch in jemanden hineinversetzen muss und versuchen soll, seine Position für einen Moment einnehmen. Ohne diesen vorgeschalteten Schritt sind sozialwissenschaftliche Erklärungsversuche unter Umständen problematisch. Weber betont, dass der erste Schritt das Verstehen ist, und erst wenn man den Akteur in seiner Lebenswelt verstanden hat, kann man mit dem Erklären beginnen. Wenn ich mit einem Nachbarn im Treppenhaus rede, dann versuche ich zu verstehen, wie er dazu kommt, Flüchtlinge nicht zu mögen oder die Politiker in Berlin als Bonzen zu bezeichnen, als wäre es noch 1985.
Es gibt ja heutzutage viel pauschale Kritik an der VWL, aber eine berechtigte Kritik an vielen Ökonomen ist, dass sie sich manchmal einbilden, so etwas wie Physikzu betreiben. Physiker sind aber nicht selbst die Atome, die sieerforschen, Ökonomen sind hingegen auch Menschen. Das übliche Instrumentarium, das wir Ökonomen meist benutzen – und auch benutzen sollten – braucht diese kulturwissenschaftliche Vorstufe, die man im hermeneutischen Sinne „Verstehen“ bezeichnen könnte. Erst dann, wenn du den sozialen Akteur adäquat in seiner Eigenheit „kapiert“ hast, kannst du mit deinem Modell loslegen. Und dann spricht auch nichts gegen vieles von unserem üblichen Instrumentarium.

HUFW: Sie sind Professor für Wirtschaftspolitik. Wie kommen Sie dazu, sich mit dem Thema Populismus zu beschäftigen?

Kolev: Das hat zwei Ebenen: eine persönliche und eine wissenschaftliche. Die persönliche besteht darin, dass ich ein ganz normaler Bürger bin, was man auch als Wissenschaftler nie vergessen darf. Ich versuche, mit einigermaßen wachen Augen durch die Welt zu laufen, sei es in Zwickau oder Sofia, und hoffe zu verstehen, was so da draußen passiert, weil es mich etwas angeht.
Als politischer Mensch versuche ich wiederum, diese Welt, von der ich sage, dass sie die beste aller gewesenen Welten ist, zu verteidigen – um es vielleicht etwas pathetisch, aber ziemlich ehrlich zu formulieren.
Die andere Ebene ist der Wissenschaftler in mir, der sich vor allem mit Geschichte des ökonomischen Denkens befasst und aus ihr Inspirationen bezieht, wie eine noch bessere Welt aussehen könnte. Wenn man beruflich etwa 15 Jahre lang über die 1930er und 40er als Epoche in der Ideengeschichte nachgedacht hat, zieht man zwar nicht leichtfertig Parallelen zwischen heute und damals, man sieht aber Lehren, die man als Wissenschaftler an andere kommunizieren kann – sei es beim Bier mit Studierenden oder Kollegen, im Seminar oder indem ich in der Zeitung darüber schreibe. Als Wissenschaftler will ich die Welt verstehen und erklären, als politischer Mensch und Bürger will ich diese besondere Welt von heute verteidigen.
In dieser Hinsicht waren 2016 sowohl der Brexit als auch die Wahl Trumps ein Schock. Und in Ostdeutschland habe ich Erfahrungen mit dem Populismus schon in den Jahren davor gemacht – mindestens seitdem es die AfD gibt, aber eigentlich seit ich 2010 in die Neuen Länder gezogen bin, damals meist im Kontext der Partei Die Linke. Die neue Ordnung, die hier 1990 zustande kam, wird von erstaunlich vielen Bürgern als aufoktroyiert aufgefasst. Und damit meine ich nach meiner Beobachtung nicht Ränder der Bevölkerung, sondern normale Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, etwa Facharbeiter bei Volkswagen in Zwickau. Man hat dementsprechend immer wieder neue Probleme mit dieser angeblich aufoktroyierten Ordnung, wenn sie etwas tut, was man im Einzelfall ganz besonders nicht mag, wie es etwa bei der Flüchtlingskrise der Fall war. In Ostdeutschland ist das Band zwischen der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik und der Bevölkerung viel dünner als im Westen.

HUFW: Manchmal scheint es ein Konkurrenzverhältnis zu geben zwischen ökonomischen Erklärungsansätzen und anderen Erklärungsansätzen zu geben. Häufig wird dabei das Erstarken des Populismus auf rein ökonomische Umstände wie gesunkene soziale Mobilität oder wachsende Ungleichheit zurückgeführt.
Auf der anderen Seite wird manchmal behauptet, dass das alles keinen Einfluss habe, sondern die Ursachen des Populismus vor allem auf andere Fragen, wie zum Beispiel kulturelle, zurückgeführt werden können. Was halten Sie davon?

Kolev: Ich glaube, dass die Gründe in einer Mischung aus beidem liegen. Wir haben sowohl materielle Interessen als auch Ideen in unserem Kopf. Ordnungen werden delegitimiert, wenn deren ideelles Gerüst nicht mehr mitgetragen wird und wenn die Individuen das Gefühl haben, dass ihre materiellen Interessen von der Ordnung nicht mehr ausreichend bedient werden. Es ist nicht entweder eine Frage der Ökonomie oder eine Frage der Kultur, sondern auf jeden Fall spielt beides eine Rolle – und bei vom Individuum als negativ empfundenen Lagen können sich beide auch gegenseitig verstärken. Sowohl die Ideen als auch die Interessen sind dabei erstmal in den Köpfen der Menschen und damit nicht unmittelbar zugänglich. Wir können das zwar auf bestimmte Weisen versuchen zu messen, aber das, was wir messen, muss nicht unbedingt der Lebensrealität der Menschen entsprechen.
Der Gini-Koeffizient als Messung von Ungleichheit ist an und für sich keine unwichtige Feststellung, aber die viel entscheidendere Frage ist, wie die real existierenden Menschen in ihren subjektiven Lebenswelten das Phänomen Ungleichheit wahrnehmen. Das sollte man stärker betonen, als wir Ökonomen das zum Teil tun.
Natürlich schadet es nicht, Zeitreihen mit herkömmlichen ökonomische Kennzahlen zu erstellen, aber mindestens genauso wichtig ist es, langfristige Demoskopie zu betreiben, wie es zum Beispiel das Institut für Demoskopie Allensbach tut. Die Datenlage muss nicht der subjektiven Wahrnehmung der Bürger entsprechen, und wenn sie es nicht tut, dann ist sie politisch ein Stück weit irrelevant. Relevanter ist, was in den Köpfen der Leute vorgeht, weil das in einer Demokratie politisch entscheidend ist.
Zusammengefasst kann man sagen, dass Ideen und Interessen immer miteinander verschachtelt und in der subjektivistischen Hülle des Individuums zu entschlüsseln sind.

HUFW: Das gilt dann auch für Sie als Wissenschaftler selber, oder?

Kolev: Auf jeden Fall. Die Vorstellung eines „unparteiischen Wissenschaftlers“ in den Sozialwissenschaften ist meines Erachtens absurd. Und da sind wir Ökonomen manchmal wirklich naiv. Theorien sind natürlich immer auch von unseren Werten und Ideologien geprägt. Das ist auch okay – solange man offen darüber reflektiert.
Meine Studierenden wissen, wie ich politisch ticke, weil ich mich zu meiner Normativität offen bekenne. Aber weil sie es wissen und mündig sind, können sie es bildlich gesprochen „abdiskontieren“, und so können wir auch über Wirtschaftspolitik reden, ohne dass ich jemanden indoktriniere. An der Normativität ist nichts Schlimmes dran, sie ist auch unumgänglich, wenn man über zu wertende Zustände wie etwa die Zukunft redet. Die Sünde wäre hier meines Erachtens lediglich die Krypto-Normativität, also die Nicht-Offenlegung der eigenen Werte eines angeblich „unparteiischen Sozialwissenschaftlers“. Die Gefahr, dass ein solcher Wissenschaftler vom Katheder – bewusst oder unbewusst – predigt, ist erheblich.
Sowohl beim Aufstellen von Theorien durch deren Begründer als auch bei der späteren Akzeptanz oder Nicht- Akzeptanz dieser Theorien spielt das eine immense Rolle, was Joseph Schumpeter als „präanalytische Vision“ des Einzelnen genannt hat.

HUFW: Auf dem Podium hat sich das Publikum besonders für den Populismus in Osteuropa interessiert. Gibt es da ein einheitliches Phänomen mit einer homogenen historischen Genese?

Kolev: Meine biographische Perspektive sieht folgendermaßen aus: Ich bin in Bulgarien geboren, habe da 18 Jahre lang gelebt, habe auch immer noch den bulgarischen Pass. Dann war ich 10 Jahre in Hamburg und bin jetzt seit 10 Jahren in Erfurt und Zwickau. Immer wieder habe ich den Eindruck, dass die Neuen Länder in vielerlei Hinsicht eine Art „Zwischending“ zwischen Bulgarien und dem Westen sind. Es hat in den letzten 30 Jahren eine Verwestlichung gegeben, aber der Sozialismus ist noch nicht verdaut.
Natürlich muss man sich zunächst jedes Land einzeln angucken. Es ärgert mich immer wieder, wenn man über Osteuropa nach dem Motto „vom Baltikum zum Balkan“ redet. Das wird weder dem Baltikum, noch dem Balkan, noch den Ländern dazwischen gerecht. Ich glaube allerdings, dass es in der Tat Gemeinsamkeiten gibt, die gewisse Generalisierungen erlauben.
Die wichtigste Gemeinsamkeit ist wahrscheinlich, dass es 1990 eine zentrale Schwäche gab: Man wusste, was man nicht wollte, das hat man abgeschüttelt. Die Generation meiner Eltern, die damals den Wandel auf der Straße herbeigeführt hat, wusste aber nicht, was sie genau stattdessen wollte. Wenn man diese Generation heute nach den Zielen von damals fragt, kommt man oft zu einem diffusen Bild eines skandinavischen Sozialstaates. Oder, wie man 1968 in Prag sagte: „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Man wollte einen Sozialstaat, ein bisschen Marktwirtschaft, aber vor allem Demokratie und gesicherten Wohlstand ohne „wilden“ Kapitalismus. „Kapitalismus“ ist bis heute für weite Teile der osteuropäischen Bevölkerung ein problematischer Begriff.
Etwa 15 Jahre lang herrschte dann Aufbruchsstimmung. Ökonomisch gesehen ist die Transformation der letzten drei Jahrzehnte auch eine riesige Erfolgsgeschichte, jedenfalls wenn man sich die Daten anschaut. Wenn man sich aber nicht nur die Daten anschaut, sondern in die Köpfe der Bürger hineinhorcht, dann ist irgendwann in den letzten zehn Jahren diese Reise nach Westen weniger eindeutig worden, die Richtung wurde zunehmend in Frage gestellt. Da muss man sich natürlich verschiedene Faktoren ansehen, vielleicht hat sich die Mentalität der Bürger der MOE-Länder verändert, vielleicht hat sich aber auch Europa verändert. Wertfrei gesprochen, ist das heutige Europa einfach nicht mehr dasjenige von Kohl und Mitterrand, das aber 1989 für die MOE-Länder das Bild Europas stark prägte.
Über die Zeit nach dem EU-Beitritt spricht man manchmal von der „post-accession reform fatigue“. Sehr vieles von dem, was seit 1990 in diesen Ländern passiert, war in der Tat wahnsinnig anstrengend. Und dann sind in den letzten Jahren Politiker hervorgetreten, Miloš Zeman als populistischer Postkommunist, Viktor Orbán als autoritärer rechter Populist. Beide gab es eigentlich die ganzen Jahre seit 1990. Denen ist es aber in den letzten Jahren gelungen, eine Stimmung einzufangen, dieses neue Unbehagen mit dem Westen, und dem ein politisches Angebot zu unterbreiten.
Es ist ein Henne-Ei-Problem, was zuerst kam: dieses politische Angebot oder die Unzufriedenheit. Was wichtiger ist: Diese Politiker werden von Bürgern gewählt, die sich nicht sicher sind, ob der Westen im Abstrakten und die EU im Konkreten heutzutage wirklich das ist, was man 1990 wollte.
Dieses qualitative Phänomen findet man, wenn auch quantitativ unterschiedlich stark ausgeprägt, in fast allen MOE-Ländern. Bis vor 10 Jahren waren Zeman & Co die Ewiggestrigen, plötzlich sind sie aber „cool“. Das Ganze hat, finde ich, allerdings auch mit Russland zu tun, darüber haben wir auch auf dem Podium geredet. Es ist keine große Verschwörung, sondern gelebte Realität: In Osteuropa spielen Russia Today oder Radio Sputnik durchaus eine Rolle. In Bulgarien etwa haben plötzlich rechte Parteien eigene Kabelfernsehkanäle, quasi Russia Today auf Bulgarisch. Man kann von dem Begriff „hybrider Krieg“ halten was man will, was man aber seit der Krim-Krise gelernt haben sollte, ist: Russland kann zwar keine attraktiven polit- ökonomischen Angebote an die MOE-Länder machen, etwa im Sinne einer Eurasischen Union, ist aber durchaus in alter sowjetischer Tradition bereit, in die Delegitimation des Westens und der EU zu investieren.
Die Instrumente sind Fernsehsender oder auch Finanzierung von Parteien wie der FPÖ und des Front National. Auf einmal finden sich dann auch Personen wie Václav Klaus, die eigentlich mal als liberal gelten, die aber nun gemeinsam mit Putin in der EU einen neuen gemeinsamen Feind gefunden haben. Es haben sich da persönliche Konstellationen gebildet, die ich noch vor zehn Jahren für unmöglich gehalten hätte.

HUFW: Meinen Sie denn, dass die populistischen Bewegungen in Osteuropa ein vernachlässigtes Thema sind? Wir hatten so ein wenig das Gefühl, dass es im Publikum des Podiums, gerade bei den zahlreichen osteuropäischen Studierenden an unserer Universität, einen großen Gesprächsbedarf gibt, der vielleicht nirgendwo so richtig erfüllt wird.

Kolev: Das kommt natürlich auf die Medien an, die man konsumiert. Ich habe da Dauerstreit mit einigen Freunden und Kollegen wegen dieses Sammelbegriffs „die Medien“, das ich nicht gut leiden kann. Die FAZ hat zum Beispiel einen Redakteur in Frankfurt, der extrem kompetent über Osteuropa und Russland berichtet, einen extrem kompetenten Moskau-Korrespondenten und auch weitere sehr gute Berichterstatter in ganz Osteuropa.
Was die Situation in Osteuropa selbst angeht, kann ich vielleicht am ehesten etwas zu Bulgarien sagen. Da kam die rechte Partei, „Attacke“, im Jahr 2005 auf, die stark mit Russland sympathisiert; seit ungefähr zehn Jahren ist der derzeitige Ministerpräsident an der Macht, der sich zwar westlich gibt, aber dahingehend Populist ist, als er keine besonderen Ideen hat und sich nur als personifizierte Politik um seinen Machterhalt schert, auch wenn er damit nicht so schlimm ist wie Orbán oder Kaczyński. In Bulgarien versteht man in meinem Freundeskreis durchaus, dass sich etwas in der West-Ost-Orientierung des Landes verschiebt und darüber wird auch gesprochen. Ich glaube allerdings noch nicht, dass wir ein konzeptionelles Verständnis davon haben, was da genau passiert und wo wir in fünf oder zehn Jahren stehen könnten. Seitdem diese Eindeutigkeit weg ist, dass die EU unser Schicksal ist und dass wir nach Westen müssen, ist es ein bisschen nebelig geworden, auch begrifflich nebelig. Nostalgie etwa reicht als Ansatz nicht aus. Man kann nicht sagen, dass darüber nicht diskutiert wird, was mit dem Land los ist und wo es hin will, es wird jeden Tag darüber diskutiert, aber es bleibt irgendwie bei einem begrifflichen Wirrwarr, der manchmal einfach nicht weiterführt.
Es gibt natürlich Länder wie Russland oder Belarus, da darf man nicht darüber reden, aber in den sonstigen Ländern, über die wir sprechen, sogar in Ungarn, redet man schon offen darüber. Aber was sie genau ist, diese illiberale Demokratie, wie ihr Verhältnis zur EU sein kann, ob Brüssel als „neues Moskau“ zu verstehen ist, wie die osteuropäischen Populisten von rechts und links es einem immer wieder weiszumachen versuchen: Die Wahrnehmung der Bürger und ihre potenziellen Verschiebungen bleibt ein wenig unklar.
Kurzum: Ich glaube nicht, dass es an Kommunikation fehlt, wohl aber an einem begrifflichen Apparat. Da haben wir noch einen weiten Weg vor uns.

HUFW: Was Brüssel angeht: Kommen wir doch zu den europäischen Institutionen, beziehungsweise zur Politik hier in den westlichen Ländern. Der Umgang mit Orbán innerhalb der EU ist schon lange strittig. Man hat Angst, dass man irgendwann den „Draht“ zu diesen Ländern verliert, vielleicht ein bisschen wie bei der Türkei, wo es mal eine Phase gab, in der das Land offen und nach Westen orientiert war.
Viele werfen der EU inzwischen vor, die sich daraus ergebende Chance verschlafen zu haben. Was meinen Sie, kann die EU tun, damit Länder wie Ungarn nicht „abschlittern“?

Kolev: Diese Frage hat zwei Ebenen: Die eine Ebene ist die EU an sich, die andere Ebene ist die EU in ihrer Haltung gegenüber ihren östlichen Mitgliedsstaaten. Zur EU an sich: Ich betone immer, dass man nicht die EU so lieben muss, wie sie real existiert, um ein guter Europäer zu sein.
Ich liebe die EU im Sinne eines bestimmten liberalen Ideals – und bejahe sie so, wie sie real existiert. In den 1950er Jahren hat man, und ich finde dieses Bild extrem hilfreich, von zwei Pfaden gesprochen, entlang derer sich die Europäische Integration entfalten kann: das große Frankreich oder die große Schweiz. Das große Frankreich ist in sich ein integrierter Markt, nach außen hin ist es offen mit leicht protektionistischen Tendenzen, ist aber vor allem in sich politisch zentralisiert. Die große Schweiz ist auch wirtschaftlich ein integrierter Markt, nach außen hin ebenfalls offen mit leicht protektionistischen Tendenzen, ist aber vor allem politisch dezentral. Und wenn man das Prinzip der Subsidiarität, das ja als Begriff an verschieden Stellen in den Europäischen Verträgen steht, ernst nimmt, so ist die große Schweiz als politisch föderales, subsidiäres Gebilde gemeint.
Allerdings marschieren wir seit den drei Jacques-Delors-Kommissionen in den 80er und 90er Jahren eindeutig in die Richtung eines großen Frankreichs. Und gerade die Idee eines politischen Zentrums Brüssel, nach dem Vorbild von Paris, das weit weg ist vom bulgarischen oder deutschen Bürger, ist ein strukturell sich verschärfendes Problem, das nicht nur Osteuropäer angeht, sondern jeden europäischen Bürger.
Meine Haltung zur Demokratie ist, dass sie umso besser funktioniert, je dezentraler sie ist. Hier in Zwickau kann ich tatsächlich demokratisch viel bewirken. Wenn ich ein Anliegen habe, weiß ich genau, wer „meine“ Stadträte sind, kann mit vertretbarem Aufwand für mein politisches Anliegen kämpfen und es tatsächlich durchsetzen.
Was Brüssel angeht: Ich habe zwar auch einen Abgeordneten im Europäischen Parlament, muss aber zugeben, dass ich selbst als ziemlich politischer Mensch nicht einmal weiß, wer das aus meiner kleinen Partei ist. Diese Entfremdung von Brüssel als ein Raumschiff, zu dem man nicht wirklich hochkommt – und das meine ich nicht wertend, sondern als beobachtbares Gefühl der Entfremdung und der fehlenden Rückkopplung – ist auf jeden Fall ein Problem. Es ist irgendwo verständlich, dass Menschen wie meine Mutter fragen: „Wo und inwieweit werde ich in diese politischen Prozesse miteinbezogen?“
Die zweite Ebene ist, wie die EU, die nun mal so ist wie sie ist, mit ihren östlichen Mitgliedsstaaten umgeht. Genauso wie mit der Eurozone und dem Umgang mit Griechenland, wofür es im Maastricht-Vertrag einfach keine Austritts-Regelungen gibt, existiert auch hier ein rechtliches und ein operatives Problem. Das juristische Problem scheint mir zu sein: Wie kann man Sanktionen ausbuchstabieren, wenn Länder schon Mitglied sind, aber gegen europäische Grundsätze verstoßen.
Das operative Problem ist, dass die potenziell Bestraften ein Vetorecht haben. Ich finde es sehr wichtig und richtig, diese illiberalen Demokratien finanziell zu sanktionieren. Allerdings ist auch zu bedenken, dass solche Maßnahmen von der destruktiven Rhetorik der örtlichen Populisten genutzt werden können, die sagen: „Brüssel ist also doch das neue Moskau, die behandeln uns wie eine Kolonie“. Der Humus aus populistischen Parteien und Personen, der sich in den letzten Jahren etabliert hat, kann solche EU-Sanktionen durchaus politisch zu seinen Gunsten ausnutzen. Durchsetzen muss sie die EU trotzdem – und auch glaubhaft kommunizieren, dass sie es immer wieder tun würde.

HUFW: Das klingt ja alles relativ vertrackt. Haben Sie einen Lösungsweg vor Augen?

Kolev: Ich bin kein Jurist und weiß wirklich nicht, wie man das Problem der ersten Ebene löst. Man redet immer von Artikel 7 im Lissabon-Vertrag, in dem es um das Sanktionieren von nicht-rechtskonformem Verhalten geht. Ich weiß aber nicht, inwiefern diese Waffe heutzutage noch taugt. Andererseits bin kein großer Freund von Mehrheitsentscheidungen in der EU, weil ich befürchte, dass so sowohl die großen Länder ihre Machtposition ausbauen können und als auch viel neue Intransparenz und Kuhhandel im Sinne von Log-Rolling und Rent-Seeking die Folge sein kann. Die Einstimmigkeit ist aber in Sachen Sanktionen offensichtlich ein gewaltiges Problem, und man hat hier eine schwierige Abwägung zu treffen, ob wir die Einstimmigkeit doch opfern, um die Rechtsstaatlichkeit in der EU zu wahren.

HUFW: Glauben Sie, man sollte darüber nachdenken, Verträge zu ersetzen?
Hans-Werner Sinn hat mal vorgeschlagen, dass man es Ländern erleichtert, von der Mitgliedschaft in eine Art „assoziierten Status“ zuwechseln.

Kolev: Ja, die atmende (Währungs-)Union. Das hört sich auf dem Papier gut an, macht ökonomisch wahrscheinlich Sinn, obwohl man sich sehr darüber streiten kann, ob die ökonomischen, politischen und sozialen Kosten des Aus- und Wiederbeitritts nicht prohibitiv hoch sind. Aber ich halte das Erschaffen von einem solchen Mechanismus vor allem für einen juristischen Kraftakt sondergleichen. Wir haben seit Griechenland einige deutlich einfachere Sachen noch nicht gelöst, wie z.B. das Insolvenzrecht bei einer Staatspleite in der Eurozone. Da sind wir nicht sehr viel weiter als 2010. Ich hänge nicht an Maastricht, offensichtlich haben sich da Lücken gezeigt.
Aber ob wir, als real existierende EU zum momentanen Zeitpunkt, die rechtsschöpferische Kraft besitzen, uns ein neues Maastricht oder ein neues Lissabon zugeben, daran habe ich als politischer Mensch meine großen Zweifel. Wünschenswert wäre es vielleicht, aber als Wissenschaftler versuche ich eher, keine utopischen Ziele anzuvisieren.

HUFW: Wir würden gerne nochmal zum Thema Brexit zurückkommen. Das wurde ja auch auf dem Podium intensiv besprochen. Es gab eine längere Diskussion, wo Sie in erkennbarem Kontrast zu Jon Henley und Stefanie Bolzen standen, es ging um die Gründe für den Brexit und Populismus. Stefanie Bolzen hatte Austeritätspolitik als Ursache angeführt...

Kolev: [Lacht] Ich möchte nicht vorgaukeln, dass ich da besonderes Expertenwissen hätte, schließlich war ich seit 5 Jahren nicht mehr in Großbritannien, aber es war eben ein wichtiges Thema auf dem Podium.

HUFW: Aber Austeritätspolitik ist doch ein Thema, wo Sie als Professor für Wirtschaftspolitik...

Kolev: Als jemand, der vor allem historisch arbeitet, würde ich diesen Begriff aus dem heutigen Diskurs am liebsten verbannen. Er wird gerne Politikern drangehängt, weil man sie nicht mag, ohne dass jemand genau sagen könnte, wo das Expansive endet und die austerity beginnt, bzw. was in Frankreich oder England in den letzten Jahren so austerity-mäßig gelaufen wäre. Sind die Staatsausgaben gesunken? Haben die Länder kein Defizit gemacht?
Der Begriff ist ein Kampfbegriff der 1930er, hatte aber damals eine gewisse analytische Klarheit. Vor ein paar Jahren, insbesondere seit dem Buch von Mark Blyth, hat man ihn wieder ausgepackt und schwingt ihn in der politökonomischen Diskussion. Er wird allerdings genauso als Kampfbegriff benutzt wie etwa 1930 in England, mit dem Unterschied, dass die damaligen Einschnitte in keinster Weise mit der heutigen Situation vergleichbar sind. Die Diskussion damals drehte sich in aller erster Linie um den Goldstandard, der der Konjunkturpolitik in der Großen Depression tatsächlich sehr enge Grenzen gesetzt hat, und das daraus resultierende „Schrumpfen-Müssen“ nannte man eben austerity. Die Schrumpfung war wirklich krass. In den Ländern, die noch dem Goldstandard angehörten, gab es eine heftige Diskussion darüber, ob dieses Währungssystem abzuschaffen sei, welches einen zum Schrumpfen und in eine jähe, sehr starke Deflation gezwungen habe.
Und etwas Vergleichbares gibt es heutzutage meines Erachtens garnicht. Weder der Stabilitäts- und Wachstumspakt von Amsterdam 1997 noch der Fiskalpakt von 2012 sind in der aktuellen Praxis – leider –mehr als ein Papiertiger. Der Goldstandard war damals wirklich eine Fessel, heute gibt es keine solche Fesseln, schon gar nicht für England, das nicht Mitglied der Eurozone ist. Die historische Analogie, die der Begriff der austerity herstellt, ist deshalb total schief.
Mein Punkt bei der Diskussion war allerdings, dass man hier Konjunkturelles und Strukturelles nicht vermischen sollte. Dem NHS ging es seit Jahrzehnten schlecht, es war schon sehr lange ein dysfunktionales System, dennoch ist es ein englisches Heiligtum. Ich bin sehr unsicher, ob man für die austerity von David Cameron einen nennenswerten Grenzeffekt auszeigen kann. Dieses System scheint strukturell so wenig leistungsfähig, dass man wohl nicht mehr so viel zusätzlichen Schaden anrichten kann. Darum war mir diese Erklärung austerity zu wenig konkret. Bei den Beispielen, die Frau Bolzen referiert hat, sollte man sich meines Erachtens zunächst fragen, ob man vom NHS strukturell überhaupt etwas Besseres erwarten kann.

HUFW: Jetzt haben wir lange über Ursachen von Populismus gesprochen. Im politischen Diskurs geht diese Diskussion oft über in Schuldfragen. Der SPD wird vorgeworfen, sie hätte ihre Wählerschaft vernachlässigt, der CDU wird vorgeworfen, sie sei nach links gerückt, der FDP wird vorgeworfen, sie sei nach rechts gerückt, den Grünen wird vorgeworfen, sie würden nur eine urbane Elite vertreten. Machen solche Schuldfragen Sinn? Kann man da jemandem moralische Verantwortung zuschreiben?

Kolev: Ich bin kein Freund davon, die üblichen politischen Diskussionen mit Schuldvorwürfen zu überladen. Manchmal sind die Probleme allerdings so existenziell, dass man nicht darum herum kommt. Die Bedrohung der Ordnung der Weltwirtschaft von so vielen Seiten, gerade auch mit Blick auf den aktuellen US-Präsidenten, aber auch die starken Fliehkräfte weg von der Mitte in vielen Demokratien, sind durchaus solche existenzielle Probleme. Wenn man sich meine Ansicht zu eigen macht, dass die heutige Ordnung einerseits wünschenswert ist und andererseits momentan sehr fragil, dann lädt man durchaus Schuld auf sich, wenn man ihr immer weitere Schläge zufügt.
Für die Politik vor 20 Jahren, beispielsweise bei den Schröder‘schen Reformen, als die Ordnung weit robuster erschien, sind solche Schuldfragen meines Erachtens nicht sinnvoll. Aber sobald die Ordnung – national, supra- oder international – in Frage steht, dann ist der Schuldbegriff sinnvoll für Akteure, die Energie darin investieren, solche Schwächen zu nutzen, um diese nach dem Krieg mühsam gemeinsam aufgebaute Ordnung abzuwickeln. Bei Umbrüchen wie 1933 fragen wir uns natürlich immer wieder, wer schuld war: Kurt von Schleicher, Franz von Papen, die bürgerlichen Eliten oder die Kapitalisten im Ruhrgebiet? Oder die Hyperinflation in den frühen 1920ern, die große Teile der Bevölkerung um ihre Ersparnisse brachte? Oder die Vordenker hinter dem totalitären Gesellschaftsentwurf?
Hier macht es Sinn, die Schuldfrage zu stellen, weil eine lebenswerte Ordnung zerstört wurde. Wenn es „nur“ darum geht, wie innerhalb einer gefestigten Ordnung Politik gemacht wird, sollte man sich mit dem erhobenen Zeigefinger etwas zurückhalten. Da wir aber momentan in einem Zeitalter sehr fragiler Ordnungen leben, bin ich bereit, auf diejenigen zu zeigen, die diese Ordnung gefährden. Und das sind eben häufig diejenigen, für die wir den Begriff des Populismus aktuell verwenden.

Lieber Herr Kolev, wir danken Ihnen für das Gespräch!

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Podiumsdiskussion “Bedroht unsere Ernährungsweise das Klima? – Wie ein Systemwandel ein Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit sein kann”

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symposium 2019: european fiscal policy